Spitzenforschung direkt am Krankenbett

Interview mit Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen

Es wurden auch 2022 an der Universitätsmedizin Essen wieder Innovationen auf den Weg gebracht, dennoch kämpfen auch die Essener Krankenhausunternehmen wie alle Krankenhäuser in Deutschland mit Problemen – da wäre zunächst ganz banal die finanzielle Ausstattung zu nennen. Braucht gute Medizin mehr Geld?

Prof. Dr. Jochen A. Werner: Eigentlich gibt die Regierung mit rund 68 Milliarden jährlich viel Geld für den Gesundheitssektor aus. Das Problem ist nicht die Menge des Geldes, sondern die Verteilung. Zum Beispiel müssten Maßnahmen zur Prävention viel besser oder – in vielen Fällen – überhaupt vergütet werden.

Im Jahr 2022 hat die Universitätsmedizin Essen wieder wichtige Schritte getan, um die Präventionsmedizin zu stärken …

Prof. Dr. Jochen A. Werner: Ja, Essen schreitet auch hier bundesweit voran – zum Beispiel mit dem neu gegründeten Zentrum für Naturheilkunde und Integrative Medizin, das den Schwerpunkt Prävention und Ernährung hat, oder mit dem Institut Urban Public Health, das Stadtplanung und Gesundheit verknüpft … Aus meiner Sicht ist Prävention die beste Medizin, aber leider vergütet unser System in erster Linie die Behandlung von Krankheiten.

Prävention bedeutet aber auch das Nutzen von digitalen Möglichkeiten, zum Beispiel die kontinuierliche Auswertung von Patienten-Daten – sozusagen Predictive Maintenance in der Medizin: Fragen wie „Was wird wann passieren?“ beziehungsweise „Was sollten Menschen in ihrem Leben verändern, damit später kein Leid auf sie zukommt?“ können mithilfe digitaler Methoden und KI beantwortet werden …

Wäre die Universitätsmedizin Essen in Sachen Digitalisierung schon weiter, wenn der Datenschutz in Deutschland nicht so restriktiv wäre?

Prof. Dr. Jochen A. Werner: An der Universitätsmedizin Essen wird alles getan, um die Digitalisierung voranzutreiben, viel mehr als an vielen anderen Kliniken – Essen ist Vorreiter, wenn es um die Integration digitaler Tools und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin geht. Mit dem Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin (IKIM) identifizieren unsere Ärzte und Wissenschaftler seit 2020 die Chancen der Künstlichen Intelligenz (KI) in der Medizin. Sie bauen eine umfassende Datenbasis auf, denn Big Data ist die Grundlage für zuverlässige Diagnosen, sie analysieren und entwickeln Methoden weiter und machen sie für künftige Therapien zum Wohl der Menschen nutzbar.

Aber: Die Universitätsmedizin Essen ist keine Insel. Auch wir müssen immer noch zu viele Doppeluntersuchungen, zu viele Mehrfach-Befragungen, vor allem bei Notfall-Patientinnen und -patienten, durchführen, weil in Deutschland Patientendaten nicht zentral hinterlegt werden. Innerhalb der Universitätsmedizin Essen ist die Elektronische Patientenakte ausgerollt, aber im Gesamtsystem – das heißt zwischen Hausarzt, Krankenkasse oder -versicherung, Fachärzten und Therapeuten – verhindert der Datenschutz eine effektive Datenübermittlung. Wir brauchen dringen eine Neuordnung des Datenschutzes im Gesundheitswesen – bundesweit!

Zu Beginn des Jahres 2023 wurde die Universitätsmedizin Essen gemeinsam mit dem Standort Köln zum Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) ernannt. Eine Auszeichnung für die fokussierte Arbeit des WTZ in 2022?

Es gibt viele Einrichtungen in Deutschland, an denen onkologisch geforscht wird. Was wir brauchen, ist die Zusammenführung von Forschung und Krankenversorgung. Das Westdeutsche Tumorzentrum ist das älteste und eines der größten Tumorzentren in Deutschland. In klinischen Studien passiert genau das, was die Medizin weiterbringt: die Verknüpfung von Forschung und Krankenversorgung. 2022 haben sich die Universitätsmedizin Essen und die Uniklinik Köln zusammengeschlossen, um die Tumorforschung noch einmal auf ein höheres Level zu heben. Hier bündelt sich nun eine einmalige Kompetenz, die deutschlandweit absoluten Leuchtturmcharakter hat. Spitzenforschung findet am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) nicht nur im Reagenzglas, sondern direkt am Krankenbett statt.

Die Universitätsmedizin Essen hatte 2022 eine Streikwelle zu bewältigen. Muten wir unserem Krankenhauspersonal zu viel zu?

Prof. Dr. Jochen A. Werner: Auch hier krankt das System und blockiert sich selbst: Wir versuchen verzweifelt die Anzahl der im Gesundheitswesen tätigen Menschen an die Strukturen anzupassen, zum Beispiel Pflegepersonal an eine große Anzahl von Krankenhausbetten – Deutschland ist übrigens Krankenhausbettenweltmeister–; das gelingt aber nicht, weil es an Fachkräften mangelt. Und dieser Pflegenotstand wird sich aufgrund des demografischen Wandels noch verschärfen. Das System und die Strukturen im Gesundheitswesen müssen sich verändern, auch wenn Lobbyisten (darunter auch Ärzte, Apotheken und Physiotherapeuten) Veränderungen verhindern wollen. Ich plädiere dafür, mehr Telemedizin einzusetzen und neue Berufsbilder zu etablieren – es müssen nicht immer examinierte Pflegefachpersonen sein, die eingesetzt werden. Auch Pflegehelferinnen und -helfer können Entlastung schaffen. Ich befürworte deshalb auch ein verpflichtendes soziales Jahr. Ein Thema, das uns auch in den kommenden Jahren noch sehr beschäftigen wird, ist, wie wir Mitarbeitende an unsere Häuser binden, wie wir neue Mitarbeitende gewinnen und wie wir neue Berufsbilder im Bereich Pflege etablieren können.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin (IKIM)

  • wurde im Februar 2020 als Institut der Universitätsmedizin Essen und der Medizinische Fakultät der Universität Duisburg-Essen gegründet.
  • verknüpft Aufgaben von Forschung und Krankenversorgung.
  • beschäftigt rund 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
  • wurde mit fünf neu eingerichteten Professuren ausgestattet.
  • fördert im Rahmen eines DFG-finanzierten Graduiertenkollegs in fünf Nachwuchsgruppen besondere Talente.
  • ist mit der Universitätsallianz Ruhr, mit weiteren Kliniken und Instituten sowie dem CCCE – Comprehensive Cancer Center Cologne Essen vernetzt.
  • baut über einen Zugang zu Patientendaten der Universitätsmedizin Essen eine umfassende Datenbank auf.

Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT)

  • ist 2020 als Zusammenschluss des Westdeutschen Tumorzentrums Essen und der Universitätsklinik Köln in einen Wettbewerb um die Anerkennung als NCT-Standort gestartet.
  • wurde im Januar 2023 als einer von bundesweit sechs NCT-Standorten anerkannt.
  • führt gemeinsam mit den Standorten Berlin, Dresden, Heidelberg, Südwest (Tübingen/Stuttgart mit dem Partner Ulm), WERA (Würzburg mit den Partnern Erlangen, Regensburg und Augsburg) und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) die klinische Erforschung neuer Diagnose- und Behandlungsverfahren auf internationales Spitzenniveau.
  • wird im Endausbau mit bis zu 98 Millionen Euro jährlich aus Bundes- und Landesmitteln gefördert.