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Räume intelligent gestalten

Healing-environment-Projekte an der Universitätsmedizin Essen

Schon in den 1980er-Jahren zeigte eine Studie des amerikanischen Wissenschaftlers Roger S. Ulrich, heute Professor an der Technischen Hochschule Chalmers in Göteborg, dass Patientinnen und Patienten in einem Zimmer mit Fensterblick auf eine natürliche Umgebung besser genesen als Patientinnen und Patienten, die in Zimmern mit Blick auf eine Steinmauer untergebracht sind. Sie verlangten auch deutlich weniger Schmerzmittel als andere frisch Operierte.

Ulrich prägte den Begriff des Evidence based Design (empirisch nachgewiesene Wirksamkeit von Design). Zahlreiche Praxis-Projekte zielen seitdem darauf ab, aktuelle Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft in die Gestaltung und Architektur von Räumen einfließen zu lassen. In der medizinischen Forschung sprechen Expertinnen und Experten auch von Healing environment (heilender Umgebung).

Monja Gerigk

Zwei solcher Expertinnen und Experten sind Monja Gerigk und Slobodan Jovic. Sie setzen am Institut für PatientenErleben der Universitätsmedizin Essen nach und nach Healing-environment-Projekte um. „Immer so, wie es unsere engen Budgets und die Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer zulassen“, sagt Monja Gerigk, Leiterin des Instituts für PatientenErleben. Gemeinsam mit ihrem Projektmitarbeiter Slobodan Jovic hat sie die Herausforderungen angenommen, in den zum Teil noch aus den 1970er-Jahren stammenden Bestandsgebäuden Räume nach neuesten Erkenntnissen und den Bedarfen der Nutzerinnen und Nutzer umzugestalten.

Slobodan Jovic

Slobodan Jovic hat viele Jahre als Physiotherapeut an der Universitätsmedizin Essen gearbeitet. Er bringt wertvolle Erfahrungen für seine neue Tätigkeit mit. „Während der engen und vertrauten Patientenbeziehungen, die ich als Physiotherapeut aufgebaut habe, haben mir die Menschen sehr viel erzählt, von ihren Sorgen, ihren Wünschen und Plänen. Sie haben auch häufig über Ängste und bedrückende Erlebnisse im Zusammenhang mit ihrer Krankheit und ihrem Aufenthalt in der Klinik, sowie was danach passiert, berichtet“, sagt Slobodan Jovic. Dazu gehören zum Beispiel das Warten in fensterlosen Räumen, ungewohnte und unheimliche Geräusche und Gerüche aus dem Krankenhausbetrieb, Poster und Plakate mit Angst einflößenden Motiven …   

Was bedeutet PatientenErleben?

Das Institut für PatientenErleben nimmt alle Erfahrungen, die Patientinnen und Patienten während ihres Klinikaufenthalts machen, in den Blick – und arbeitet kontinuierlich daran, möglichst viele Maßnahmen in der Praxis umzusetzen, die den Patientinnen und Patienten diese meist belastende Situation so angenehm wie möglich machen. Neben gut strukturierten Prozessen, die das Sicherheitsgefühl der Patientinnen und Patienten stärken und ihnen ein Gefühl des „Gut-aufgehoben-seins“ vermitteln sowie einer empathischen Patientenkommunikation und der Kooperation mit Selbsthilfeorganisationen, Patientenbeiräten und Angehörigen gehört auch das Healing Environment zu den Tätigkeitsfeldern des Instituts für PatientenErleben. Das Team gestaltet Rückzugsorte auf den Stationen und in den Wartebereichen und sorgt für Wohlfühlatmosphäre in Patientenzimmern oder Aufenthaltsräumen, um Ängste und Stress zu reduzieren.

Forschungsgrundlage

Solche Faktoren nennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler „Stressoren“. Wie die Umgebung auf den Heilungs- und Genesungsprozess von Patientinnen und Patienten und das Erleben von Angehörigen Einfluss nehmen kann, erforschen Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler. Architekten und Innenarchitekteninnen berücksichtigen wiederum die Erkenntnisse heute häufig bei der Planung und Gestaltung neuer Gebäude im Gesundheitsbereich. Aber wie umgehen mit dem, was schon existiert? Monja Gerigk: „Wir haben bei der Umgestaltung die Forschungserkenntnisse ebenso im Blick wie Aspekte der Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit.“ Möbel, die noch gute Dienste leisten, werden ins neue Raumkonzept integriert, stets sucht das Team nach wirkungsvollen Maßnahmen, die nicht zu kostenintensiv sind und stimmt sich eng mit dem Dezernat Bau und Technik und dem Einkauf der Universitätsmedizin Essen ab. Auch Mitarbeitende, Patientinnen und Patienten sowie das therapeutische Personal werden in die Planungsprozesse eingebunden.

Kooperationsprojekte

Anja Ziarnetzky (l.), Qualitätsmanagerin und in der Pflegeleitung an der Klinik für Neurochirurgie und Wirbelsäulenchirurgie tätig, berichtet: „Wir haben gemeinsam mit dem Institut für PatientenErleben zwei Patientenbefragungen begleitet. Bequeme, standsichere, aber nicht zu schwere Sitzmöbel wünschten sich die meisten und Orte, an denen sie mehr Privatsphäre genießen können.“ Roswitha Hollander (2.v.l.), ebenfalls in der Pflegeleitung der Neurochirurgischen Klinik tätig, ergänzt: „Wir haben zunächst ein Testsofa mit Schallschutz und USB-Anschluss hier im Warte- und Aufenthaltsbereich aufgestellt. Davon waren die Patientinnen und Patienten durchweg begeistert.“  Ähnliche Sofas wurden anschließend für den gesamten Bereich angeschafft, auf den USB-Anschluss musste das Healing-Environment-Team allerdings verzichten: Der Brandschutz lässt dies in der Universitätsmedizin Essen nicht zu. Monja Gerigk: „Das sind die Vorgaben zum Brandschutz, mit denen wir leben müssen. Aber wir sind froh, bereits so viele Projekte angestoßen zu haben – auch dank der finanziellen Unterstützung durch die Stiftung der Universitätsmedizin Essen!“

Ein Rundgang durch die Kliniken der Universitätsmedizin Essen

Aufenthalts- und Wartebereich auf den Stationen im OPZ 2

Abgewetzte Stühle sind leichten Sesseln in sanften Farben gewichen. Die Glastische wurden von der vorherigen Möblierung übernommen.

Moderne Schallschutzsofas schirmen die Laufwege des Krankenhauspersonals ab – hektisches Hin- und Herlaufen oder das Schieben von Betten bekommen Patientinnen und Patienten oder Besuchende, die hier sitzen, nicht mit.

Die große Fensterfront gewährt eine Aussicht ins Grüne – hier können Patientinnen und Patienten Kraft und Hoffnung aus der Natur schöpfen.

Wegen der Sonneneinstrahlung in diesem Bereich hat das Team für die Möblierung Farben aus dem kühleren Farbspektrum und erdige Töne gewählt.

Aufenthalts- und Wartebereich auf den Stationen der Klinik für Neuro- und Wirbelsäulenchirurgie

Für Patienten, die neurochirurgische Eingriffe hinter sich haben, hat das Team bei der Auswahl der Stühle darauf geachtet, dass Menschen mit frischen Wunden, insbesondere Kopfwunden, bequem und sicher sitzen können.

Bei der Auswahl von Sitzmöbeln spielt Stabilität und Bequemlichkeit ebenso eine Rolle wie das Gewicht.

Mobilitätseingeschränkte Personen sollen sich sicher abstützen können, aber auch die Möbel nach ihren individuellen Bedürfnissen positionieren können.

Vorraum des Kreißsaals, Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe

Der Warte- und Aufenthaltsbereich vor dem Kreißsaal in der Frauen-Klinik war früher dunkel und rein funktional möbliert. „Ein schwieriger Raum“, sagt Monja Gerigk, „der unser Team, zumal es unser erstes Projekt war, regelrecht überfordert hat.“ Das Team holte sich Unterstützung von einer Innenarchitektin.

End-of-life-Raum

Weil es auf der Intensivstation der Klinik für Kardiologie und Angiologie keinen Raum gab, um Angehörigengespräche zu führen, die besonderer Behutsamkeit und Zugewandtheit bedürfen, zum Beispiel sogenannte End-of-life-Gespräche, behalfen sich Ärzte und Pflegepersonal bisher mit einem notdürftig umgebauten, ehemaligen Patientenzimmer.

Das Healing-Environment-Team hat in diesem Raum „Wunder bewirkt“, so sieht es auf jeden Fall Nicole Kersten-Weiner, Assistentin der Klinikleitung.

Naturgetreue künstliche Pflanzen beleben den Raum – echte Pflanzen sind aus hygienischen Gründen leider nicht erlaubt.

Ein beleuchtetes Foto mit einer Natur-Szene vom Baldeneysee wirkt hell und beruhigend zugleich.

Aufenthaltsraum auf der Station Neuro 3

Holzlaminat vermittelt Wohnlichkeit und Wärme und genügt dennoch den hygienischen Ansprüchen eines Krankenhauses.

Da es dem Raum an einer schönen Aussicht fehlt, wählte die Innenarchitektin eine Tapete mit Natur- und Blumenmotiven.

Die sieben Umgebungsvariablen: Einfluss von Architektur auf Gesundheit*

  1. Orientierung
  2. Geruchskulisse
  3. Geräuschkulisse
  4. Privatheit und Rückzugsraum
  5. Power Points
  6. Aussicht und Weitblick
  7. Menschliches Maß

*G. Koppen und T.C. Vollmer, Architektur als zweiter Körper – Eine Entwurfslehre für den evidenzbasierten Gesundheitsbau, Gebr. Mann Verlag Berlin 2022

Weiterführende Informationen

Das European Network Architecture for Health (ENAH) ist eine interdisziplinäre Nonprofit-Organisation, ein europäisches Netzwerk von Expertinnen und Experten aus den Bereichen Architektur, Public Health, Städteplanung, Gesundheitswissenschaften, Gesundheitsökonomie und Medizintechnik. Das Ziel: die Architektur und die Nachhaltigkeit von Gesundheitsbauten verbessern, indem Expertenwissen sich mit interdisziplinären Forschungserkenntnissen verknüpft.